Ist der Mittelalter-Boom zu Ende?

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    • Es gibt eine große Diskrepanz zwischen Wissenschaftlern und Laien, die man auch nicht außer Acht lassen sollte. Mittelalter-Historiker interessieren sich in aller Regel nicht oder kaum für das Alltagsleben der Menschen (mich eingeschlossen). Relevant für die Geschichtswissenschaft sind eher größere Zusammenhänge, also politische Geschichte, Gesellschaftsordnungen, Kultur- und Geistesgeschichte etc. Eine Geschichte aus dem Nähkästchen: Ich habe mich im Rahmen der Doktorarbeit bspw. sehr intensiv mit spätmittelalterlichen Klöstern beschäftigt. Unter anderem auch mit der Frage nach dem Speiseplan (kleiner Mini-Teilaspekt meiner Arbeit). Aber mich interessiert grundsätzlich nicht, wie und was die gegessen haben oder wie das Essen gewürzt war oder sonstwas, sondern die Frage dahinter war die, welche Rückschlüsse man daraus in Hinblick auf die Beachtung der Disziplin, des Fastengebotes und des Armutsgebotes ableiten kann. Historiker denken in Zusammenhängen und wollen keine Rezepte nachkochen. Kein Mittelalter-Historiker wird ein Mittelalter-Kuchbuch auf den Markt bringen, weil das für das Fach einfach nicht relevant ist.

      Laien hingegen wollen - so mein Eindruck - das Mittelalter "erlebbar" machen. Sie haben einfach einen anderen Zugang zu dieser Epoche. Ob man hier aber von fundiertem Wissen sprechen kann, weiß ich nicht. Können Laien die Quellen in Originalsprachen lesen? Also können sie Latein, Alt-, Mittel- oder Frühneuhochdeutsch? Oder sind sie auf Quellenübersetzungen (die auch immer schon eine Interpretation sind) angewiesen? Außerdem interessieren sich Laien in der Regel nicht für größere Zusammenhänge oder Fragestellungen, sondern wollen Schlachten nachkämpfen, Rezepte nachkochen oder Klamotten nachnähen. Eben, der Zugang ist ein anderer. Dass sie den Wissenschaftlern überlegen sind, wage ich doch stark zu bezweifeln. Sie interessieren sich einfach für Aspekte, die für die Geschichtswissenschaft irrelevant sind, weil sie keine größeren Fragen beantworten. Ohne jetzt wie ein Snob klingen zu wollen, aber Laien würden oftmals nicht mal die Fragestellungen verstehen, mit denen Wissenschaftler sich beschäftigen. Der Punkt ist aber auch: Das müssen sie auch gar nicht! Man sollte einfach akzeptieren, dass es verschiedene Arten gibt, sich dem Themenkreis zu nähern und dass es eben Leute gibt, die fundiert mit Quellen arbeiten (die sie auch verstehen) und dass es eben Leute gibt, die nachleben, was sie irgendwann mal irgendwo aufgeschnappt haben. Beide haben Spaß an ihrem Tun und beide haben ihre Existenzberechtigung. Aber ich empfinde es als sehr anmaßend, wenn mir jemand ohne fundierte Grundausbildung erklären will, wo mein Fach Defizite hat und wie es besser funktionieren würde. Gleichzeitig maße ich mir nicht an, irgendwelchen LARPern zu erklären, was sie falsch machen und wie es richtig wäre. Ich meine, nur weil ich einen Computer zuhause habe und weiß, wie er angeht, erkläre ich einem Informatiker auch nicht seinen Job.

      Darüber hinaus: Wenn Historiker in irgendwelchen Fernsehdokumentationen auftreten, sind sie gezwungen, zu vereinfachen. Wenn man Aspekte, mit denen man ganze Bibliotheken füllen könnte, in zwei Sätzen runterbrechen muss, KANN das gar keine adäquate Darstellung sein, sondern ist zwangsläufig verkürzt. Diesen ausgewiesenen Fachwissenschaftlern dann Unkenntnis vorzuwerfen, ist einfach falsch und fast schon undankbar.

      Edit: Man muss hier wohl auch zwischen europäischen und amerikanischen Historikern unterscheiden. Mein Eindruck ist, dass amerikanische (College-) Professoren längst nicht so umfassend ausgebildet sind wie hierzulande und dementsprechend auch Unsinn verzapfen. Oft sind ihre Methoden und Schlussfolgerungen auch wissenschaftlich fragwürdig und tendenziös. Das mag einerseits mit dem amerikanischen Bildungssystem zusammenhängen, aber auch darin begründet liegen, dass Amerika selbst kein Mittelalter hatte. Es ist insgesamt "reißerischer" und weniger seriös als in Europa. Man möchte halt, dass es spannend ist....

      Dieser Beitrag wurde bereits 2 mal editiert, zuletzt von Blooddigger ()

    • Blooddigger schrieb:

      Mittelalter-Historiker interessieren sich in aller Regel nicht oder kaum für das Alltagsleben der Menschen (mich eingeschlossen).
      Ja, das ist richtig. Nur stellt sich mir dann die Frage warum eben diese Historiker sich dann über eben die alltägliche Sachkultur der Vergangenheit in den Medien überhaupt äußern, was ja eindeutig nicht ihr Fachgebiet ist? Man müsste ja folgerichtig die Anfragen von Medien an die z.B. Archäologen und Reenactors weiterleiten.


      Blooddigger schrieb:

      Laien würden oftmals nicht mal die Fragestellungen verstehen, mit denen Wissenschaftler sich beschäftigen. Der Punkt ist aber auch: Das müssen sie auch gar nicht! Man sollte einfach akzeptieren, dass es verschiedene Arten gibt, sich dem Themenkreis zu nähern und dass es eben Leute gibt, die fundiert mit Quellen arbeiten (die sie auch verstehen) und dass es eben Leute gibt, die nachleben, was sie irgendwann mal irgendwo aufgeschnappt haben. Beide haben Spaß an ihrem Tun und beide haben ihre Existenzberechtigung.
      Absolut! So sollte es ebenfalls die Regel sein.

      Blooddigger schrieb:

      Aber ich empfinde es als sehr anmaßend, wenn mir jemand ohne fundierte Grundausbildung erklären will, wo mein Fach Defizite hat und wie es besser funktionieren würde. Gleichzeitig maße ich mir nicht an, irgendwelchen LARPern zu erklären, was sie falsch machen und wie es richtig wäre. Ich meine, nur weil ich einen Computer zuhause habe und weiß, wie er angeht, erkläre ich einem Informatiker auch nicht seinen Job.

      Blooddigger schrieb:

      Diesen ausgewiesenen Fachwissenschaftlern dann Unkenntnis vorzuwerfen, ist einfach falsch und fast schon undankbar.
      Und hier ist der springende Punkt...

      Solange sich die angesprochenen ausgebildeten Fachwissenschaftler der Geschichte tatsächlich in ihrem Fachgebiet befinden, ist die Welt in Ordnung, und ich wäre der Letzte der daran was zu kritisieren hätte. Wenn diese aber, ob nun in ihren Büchern oder Medien, auf einmal anfangen definitiv falsche Aussagen bezüglich Metallurgie, Biologie oder gar Chemie zu tätigen, weit außerhalb ihres eigentlichen Fachgebietes, dann kann man diesen Leuten sehr wohl metallurgische, biologische und chemische Unkenntnis vorwerfen. Wenn z.B. renommierte Historiker in ihren Werken die physischen Abmessungen der mittelalterlichen Waffen publizieren, nur um dann im nächsten Satz einem 90cm langen 50-30mm breiten und 5 bis 2mm dicken Stahlstreifen Gewichte von 5 bis 7 kg zu bescheinigen... :pinch: Dichte von Eisen ist Physik- und Technikunterricht auf Realschul-Niveau, und die erwähnten Stahlstreifen bestehen definitiv nicht aus abgereichertem Uran, Wolfram oder Iridium.

      Viele Historiker begeben sich in solche komplett fachfremde Situationen, und das oft mit einer erstaunlich persistenter Selbstsicherheit.

      Mit dem uns bekannten Ergebnis.
      Slow equals smooth and smooth equals fast
    • Die Mittelaltermarktsaison 2022 ist angebrochen.

      Hier wäre meine mit Absicht anonym gehaltene Zusammenfassung meiner Beobachtungen vor Ort...

      Ein typischer Mittelaltermarkt was typischerweise seit mehr als 15 Jahren regelmäßig stattfindet. Zwei MA-Bands sind engagiert. Eine davon ist in MA-Kreisen wohlbekannt, die andere weniger. Alle auftretenden Mitglieder, bis auf zwei bis drei Ausnahmen, sind zwischen 40 und 60 Jahre alt, also klassische GenX'er. Deren musikalischer Stil (spiel- und darbietungstechnisch) ist immer noch so ziemlich genau derselbe, mit welchem Ende 1990er Corvus Corax und In Extremo ihren Erfolg in den Massenmedien begründet haben.

      Vor 15-17 Jahren war es noch üblich dass die MA-Künstler für Fans und Interessierte total offen waren, man könnte mit ihnen reden, quatschen und Kontakte knüpfen. Man war von seinem Tun noch begeistert, man wollte was ausprobieren was noch nie so da war, man war noch "Punk"! Man erinnere sich dass selbst DIE MA-Bands wie Spilwut und Corvus Corax als eine Art Protest begonnen haben, und zwar gegen die Gesellschaft in welcher die Mitglieder lebten.

      Jetzt sind es 40 bis 60 jährige Herren, die mit gleichgültig-genervten Mienen die Bühne besteigen, ihr wohlbekanntes Standard-Programm abspielen und dann komplett vom Markt verschwinden um bei Zigaretten und Smartphone die Zeit bis zum nächsten Auftritt zu überbrücken. Kommunikation mit Fans und Interessierten auf dem Markt tendiert gegen Null. Keine Begeisterung und keine Freude sind bei ihrem Tun erkennbar, man habe das Gefühl es wird hier nur der tägliche 08/15 Job verrichtet und die Bandmitglieder haben nur eins im Kopf - Feierabend und Heimfahrt. Die Szene lebte ja in den 1980ern bis in die 2000er hinein von einer Art Punk-Zeitgeist; unangepasst sein, Freiheit genießen, aus gesellschaftlichen Zwängen herausbrechen.... und jetzt ist es routiniertes und nichtssagendes Tralala von Alten für Alte, welche, heute, schon mal an sich die biederste und angepassteste Demografie darstellen. Dementsprechend klingen "Wir lassen uns nicht unterkriegen!" - Songs aus dem Mund der alten Herrschaften wie ein kompletter Anachronismus. Generationenwechsel? Fehlanzeige.

      Auf einer Seite finde ich das extrem traurig und sehr schade.
      Auf der Anderen sagt es mir aber vor allem eines....

      Das bisherige Konzept der mittelalternativen Musik auf dem Marktsack im Kontext eines "Mittelaltermarktes" hat komplett ausgedient! Die gesamte Bewegung wird mit der Zeit zwangsläufig und entgültig mit leeren Kassen enden, die Baby Boomer sind mittlerweile eine reine Rentner-Generation und die GenX'er sind in ihrer Masse mittlerweile 50+ unterwegs.

      Es sei denn, man erfinde das Mittelalternative und den MA-Markt neu.

      Und ich, als Pädagoge vor Ort, bin schon dabei eben das zu tun :)


      Grüße, George
      Slow equals smooth and smooth equals fast

      Dieser Beitrag wurde bereits 2 mal editiert, zuletzt von George ()

    • George schrieb:


      Man war von seinem Tun noch begeistert, man wollte was ausprobieren was noch nie so da war, man war noch "Punk"! Man erinnere sich dass selbst DIE MA-Bands wie Spilwut und Corvus Corax als eine Art Protest begonnen haben, und zwar gegen die Gesellschaft in welcher die Mitglieder lebten.

      Das Label "Punk" funktioniert für die alte Generation nicht mehr - irgendwann wächst sich das aus und das Reihenhäuschen wird doch noch zur angenehmen Vorstellung.
      Für die junge Generation genauso wenig, es gibt ja nichts gegen das man rebellieren könnte - und vom Wohlstand ist man so übersättigt, das man gar nicht dazu kommt eine entsprechende Haltung zu entwickeln.

      Ich denke, das man sich von diesem Klischee - genauso wie vom Mittelalter befreien sollte, wenn man eine Zukunft für den Marktsack will.
    • Blooddigger schrieb:



      Darüber hinaus: Wenn Historiker in irgendwelchen Fernsehdokumentationen auftreten, sind sie gezwungen, zu vereinfachen. Wenn man Aspekte, mit denen man ganze Bibliotheken füllen könnte, in zwei Sätzen runterbrechen muss, KANN das gar keine adäquate Darstellung sein, sondern ist zwangsläufig verkürzt. Diesen ausgewiesenen Fachwissenschaftlern dann Unkenntnis vorzuwerfen, ist einfach falsch und fast schon undankbar.

      Edit: Man muss hier wohl auch zwischen europäischen und amerikanischen Historikern unterscheiden. Mein Eindruck ist, dass amerikanische (College-) Professoren längst nicht so umfassend ausgebildet sind wie hierzulande und dementsprechend auch Unsinn verzapfen. Oft sind ihre Methoden und Schlussfolgerungen auch wissenschaftlich fragwürdig und tendenziös. Das mag einerseits mit dem amerikanischen Bildungssystem zusammenhängen, aber auch darin begründet liegen, dass Amerika selbst kein Mittelalter hatte. Es ist insgesamt "reißerischer" und weniger seriös als in Europa. Man möchte halt, dass es spannend ist....
      Dem ist bzgl. der Ami-Historiker im Ergebnis zuzustimmen. Ob das damit zu tun hat, dass diese kein Mittelalter hatten, weiß ich nicht. Es gäbe bei denen ja auch genügend bzgl. deren eigener Ureinwohnergeschichte zu forschen, was das "Mittelalter" in dem hier bezogenen Sinne ersetzen könnte.

      Aber man muss auch differenzieren:
      Wir sehen hier immer nur Dokus von reißerischen NTV-Histoirikern ("Yeah...it´s amazing....oh my goodness...!")=. Aber die Basisarbeit sehen wir nicht.

      Wenn ich mich mit Angehörigen von Museen unterhalte, dann haben die oft eine sehr fundierte Kenntnis über das, was sie da verwalten, dessen Herkunft, Quellenlage etc. .

      Der Punkt Fernsehdokumentation ist eben "Populärwissenschaft" - Nomen est Omen.

      Die Schwierigkeit die Bloodigger beschreibt, hat z. B. auch Markus Junkelmann erfahren müssen. Er versuchte die Quellenlagen erlebbar zu machen. und handelte sich dann harsche Kritik von den Pupulärwissenschaftlern, Larp-ern und der Allgemeinheit ein, als er anführte, dass z. B. Frauen in keine Gladiatorenrüstungen gehörten, sondern an den Herd; dass Leute ab 45 in Militärrüstungen nichts zu suchen hätten, ebensowenig Brillenträger etc..... und dass sich Dressurreiter vom Acker zu scheren hätten, wenn sie auch nur versuchen wollten, sich auf ein Pferd zu setzen, um einen Angehörigen einer römischen Kavallerieeinheit zu mimen.

      Er meinte aber auch, wie Blodigger, dass man eben unterscheiden muss zwischen Darstellenwollen mit historischem Equipeement (egal, wo das herkommt und wie es zusammengesetzt sei) und Darstellenwollen mit Equipement, was vom ersten Faden an so hergestellt sei, wie damals.
      Beides habe seine Berechtigung (Abgesehen von billigen Repliken , die zu Hungerlöhnen hergestellt würden). Aber auch das einfache Darstellenwollen müsse sich in etwa im fundierten Rahmen halten. Das 5kg-Schwert von 90 cm Länge gibts eben auch bei ihm nicht...physikalisch, wie historisch gesehen.

      Am Wochenende ist hier um die Ecke wieder MA-Markt. Ich überlege hinzugehen und ggf. schmerzlich das von George Erwähnte ggf. wieder erdulden zu müssen. Oder einfach lieber mit meinem Instrument mich irgendwohin auf den Acker zu stellen...Letzteres bringt wohl mehr (Oh jeh...ich muss es vorher nochmal ölen...).

      @ Schelmenkopf
      Von welchem Klischee, meinst Du, muss man sich agenauso befreien wie vom "Mittelalter" ? Komme da irgendwie nicht mit.
    • @ Schelmenkopf

      Ach so....ja, das ist richtig.

      Ich dachte, man solle sich vom Punk-Klischee im Sinne des musikalischen oder sonstigen Lebensgefühles an sich befreien.

      Das würde ich mit dem typischen MA-Markt-Spielleute-Klischee "Prolliges Auftreten und musikalisch-thematisch möglichst viel Sex und
      Alkohol, dazu die ständige (Über-)Betonung wie anders man doch sei." nicht unbedingt gleichsetzen.

      Sicher ist es irgendwann etwas unglaubwürdig, wenn sich jemand unter dem Aspekt "Punk" im Alter von 50 aufwärts auf die Bühne stellt und brüllt "Hurra, hurra...die Schule brennt..." (es sei denn, ihm gehört diese und er betriebt gerade ne heiße Sanierung). Auch wenn man keine reihenhausvorstellungen hat - sondern eher von nem abgewrackten Vierseitenhof träumt.

      Aber für ein punkiges "Unangepasstsein" im Sinne von mit seiner, eben etwas alternativen Musik oder seiner - historisch fundierten und nicht klischeebeladenen - Vorstellung von einer gewissen Zeitepoche mit oder von mir aus gegen die Gesellschaft leben zu wollen, ist meines Erachtens in jedem Lebensalter Platz.

      Schon allein dadurch, dass man sich ggf. tiefgründig, halbwegs historisch fundiert mit einer Epoche, deren Lebensweise und Musik beschäftigt, hebt einen das, vielleicht schon sogar ungewollt, von der Masse ab. Man braucht sich da auch gar nicht wirklich anzustrengen.

      Und man braucht dazu nicht mal die angeblich für Punk notwendige Ablehnung alles "Establismentenen" zu zelebrieren - Stichwort: Ich bin einfach gegen alles, gegen Arbeit, gegen Geld...aber "Hattu mal nen Euro...ne Kippe...ick brooch wat zu Saufen..." - die in meinen Augen nicht mal etwas Alternatives hat - sondern schlichtweg dumm ist.

      Denn geht man in die Geschichte mal ganz weit zurück, in die Zeiten, in die sich diese "Punkis" wohl gerne wähnen - dann würden sie feststellen, dass sie selbst allein lebensunfähig wären und nicht überleben würden. Das Unangepasste lebt nur von der Gesellschaft, die es ablehnt. Wie ein Parasit, der zum Sterben verurteilt ist, wenn sein Wirt nicht mehr existiert....
    • Mein Standpunkt in Bezug auf professionelle Historiker und deren Rolle in den Medien und im MA-Bereich anhand eines Beispiels...

      Nehmen wir mal an, ein unbedarfter Laie schaut einen "Mittelalterfilm" an und möchte einfach ein Paar Sachen noch genauer wissen. Er googelt und findet ein YouTube-Video wo behauptet wird dass die Rüstung eines Ritters so schwer und unbeweglich war dass er einfach wie ein Schildkröte am Boden blieb wenn er vom Schlachtross herunter fiel. Er sucht dennoch weiter und trifft auf ein Paar durchaus seriöser Artikel welche dasselbe behaupten. Der Laie möchte auf Nummer sicher gehen und er liest eine Publikation von und/oder mit Prof. Dr. Gerd Althoff welcher im deutschen Sprachraum als eine absolute Koryphäe innerhalb seines Fachgebietes - Mittelalterliche Geschichte mit Schwerpunkt Ottonenzeit - betrachtet wird. Die absolute Spitze des akademischen Sachverstandes. Und dort liest der Laie nun...

      https://www.philippspreckels.com/krieg-und-folter-im-mittelalter/ schrieb:

      Gerd Althoff: Es gibt in gewisser Weise dadurch eine Verrohung der Sitten, dass mehr Schichten der Bevölkerung an den Kriegen beteiligt sind, dass es neue Arten von Berufskriegern gibt – die sogenannten Söldner -, die dann zum Teil nach anderen Regeln kämpfen, oder dass bestimmte Herrschaftsbereiche oder Königreiche dann nichtadelige Krieger einsetzen, etwa Bogenschützen. Oder dass die sogenannten ritterlichen Kampfweisen mit der Zeit so aufgelockert wurden, dass man etwa das Pferd angriff – einen Ritter konnte man ja am leichtesten dadurch besiegen, dass man sein Pferd tötete, oder dem ein Bein abschlug oder so etwas. Alles das hat man in vielen Jahrhunderten nach einem Ehrencodex unterlassen, während das zum Spätmittelalter hin brutaler wird. Aber insgesamt kann man natürlich nicht sagen, dass das Frühmittelalter jetzt sozusagen ein friedliebendes Zeitalter und erst das Spätmittelalter gewalttätig ist

      ... und sieht dass selbst Prof. Dr. Gerd Althoff die vorherigen Infos durchaus bestätigt. Also muss es doch so gewesen sein!

      Und nun betritt ein Vertreter der HEMA-Bewegung die Bühne. Er trägt einen hochauthentischen gotischen Feldharnisch des 15 Jh. welcher anhand einiger Originale gefertigt wurde. Er reitet ein Ross, springt herunter, rollt ab und steht geschwind wieder auf. Dann präsentiert er spätmittelalterliche Fechtmanuskripte, schriftliche und bildliche Belege für den Kampf des Ritters, beritten und zu Fuß, und weist dadurch nach dass das Bild des Ritters als eine "unbewegliche Konservendose" tatsächlich ein Produkt der Moderne ist, wobei das meiste davon aus der Filmindustrie stammt.

      Und so entsteht bei dem Laien der Eindruck, dass selbst die absoluten Spitzen des akademischen Sachverstandes 1). wohl selbst keine so richtige Ahnung von dieser konkreten Materie haben und 2). wie kann ich denn sicher sein dass alles andere was die Prof. Dr.'s sagen auch korrekt ist??? Das Ergebnis ist ein subtiles und oft sehr generelles Misstrauen der Laien gegenüber Fachleuten.

      Ob jetzt Ritter und Rüstung, Burgen oder mittelalterliche Küche, "Recht der ersten Nacht" oder Foltermethoden, die Mythen und Missverständnisse über das Mittelalter leben munter weiter, und das in erster Linie dadurch, dass die Historiker selbst (unabhängig von ihrer Qualifikation und Spezialisierung) im Laufe des 20 Jh. viel zu vielen Mythen und Klischees selbst aufgesessen sind, und diese z.T. bis heute weiterhin propagieren. Eine wissenschaftlich korrekte Auflösung dieser Klischees wird dadurch ernsthaft erschwert, was sich auf die Medien und letztendlich auf den MA-Bereich mehr oder weniger direkt auswirkt - das "Mittelalter" verkommt zusehends zu einem Sammelsurium an klischeehaften Schauermärchen die zwar ganz gut Klicks und Likes erzeugen, im Großen und Ganzen aber das allgemeine Bildungsniveau nach unten drücken und dem gesamten MA-Bereich einen langfristigen Schaden zufügen.

      Ich würde mir einfach wünschen dass die Historiker als Berufsgruppe ihr Wissen über die militärische, kulinarische und haushaltstechnische Sachkultur des gesamten Mittelalters kritisch und konsequent überprüfen bzw. mit Quellen untermauern, und es in Zukunft unterlassen ungeprüfte und hanebüchene Behauptungen in die Welt zu setzen. Gekränkte Ehre hin oder her, Falschinformation bleibt Falschinformation, und sie schadet auf Dauer allen Angehörigen dieser Berufsgruppe.
      Slow equals smooth and smooth equals fast
    • Das Problem ist nicht, was Althoff sagt, sondern was du da reininterpretierst. Althoff sagt an keiner Stelle, dass ein Krieger ohne Pferd eine Konservendose ist, sondern dass ein Krieger ohne Pferd nunmal ein leichteres Ziel und leichter zu töten ist. Und dass man ohne Pferd langsamer ist als mit wirst du auch nicht abstreiten können. Gemeint sein könnte auch, dass ein getötetes Pferd, das stürzt, den Reiter unter sich begräbt, der dadurch ebenfalls zu Tode kommt.

      Wenn der Laie zu viel in wissenschaftliche Texte interpretiert oder sie nicht versteht, ist das kein Problem der Wissenschaft, sondern eines des Laien ;)
    • @Blooddigger
      An der Stelle ist es, glaube ich, passend, wenn man an Originalquellen verweist, die Fechtmanuskripte des 15 Jahrhunderts, wo Harnischfechten von professionellen Fechtmeistern gelehrt wird.
      wiktenauer.com/wiki/Category:Armored_Fencing

      Diese Art der Quellen ist die aussagekräftigste Quellenart die wir haben, und müsste entsprechend studiert werden. Leider ist es so dass z.Z. eben die Laien diese Quellen studieren und experimentell bestätigen oder widerlegen, währenddessen die etablierte Fachwelt vom praktischen Inhalt dieser Quellen sehr wenig bis gar nichts weiß. Täte sie dies, wüsste sie dass "Pferd töten" oder ein "Pferdebein abschlagen", wie es im Originalzitat behauptet wird, in den Quellen 1). nirgendwo gelehrt wird, und 2). an der Realität des Hiebwaffengebrauchs völlig vorbei geht. Auch die Wege, wie man z.B. einen Plattenpanzer des 15 Jh. historisch bezwungen hat, haben grundsätzlich nichts damit zu tun ob der Krieger auf dem Pferd sitzt oder zu Fuß unterwegs ist.

      Mein Ziel ist einfach deutlich zu machen dass solcherlei Zitate von hochprofessionellen Historikern nur verdeutlichen dass diese die eigentliche Primärquellen (die besagten Fechtmanuskripte) nie zu Gesicht bekommen haben, sondern einfach nur versuchen sich das Geschehen auf historischen Schlachtfeldern mit ihrer modernen Vorstellungskraft zusammen zu reimen. Denn das was wir aus den Fechtmanuskripten in Bezug auf Harnischfechten kennen, und das was Herr Prof. Dr. Gerd Althoff in diesem einen Satz darlegt, sind leider zwei verschiedene Paar Schuhe.

      Und darauf will ich hinaus. Jede Behauptung in Bezug auf die Geschichte muss belegt werden. Ob Laie oder hochkarätiger Historiker.

      Sonst ist Verbreitung von Mythen unvermeidbar.
      Slow equals smooth and smooth equals fast
    • Schön und gut, aber es ist eben ein Interview und keine Publikation. Ich habe ja weiter oben schon geschrieben, dass solche Interviews immer verkürzt sind, weil einfach kein Raum für ausschweifende Quellenangaben und - analysen da ist. Außerdem ist die Mehrheit der Leser und Hörer nicht an ausführlichen Quelleninterpretationen interessiert.

      Außerdem darfst du auch nicht vergessen, dass die von dir genannten Fechtbücher normative Quellen sind. Sie bilden die Wirklichkeit eben nur bedingt ab, sondern beschreiben einen Soll-Zustand. Deskriptiv sind solche Quellen nur bedingt. Dafür, wie weit Norm und Wirklichkeit auseinanderstreben, haben wir auch mehr als genug Beispiele aus anderen Bereichen.

      Aber ich sehe schon. Du scheinst an deiner Haltung: "Böse und ungenaue Wissenschaftler, die eigentlich keine Ahnung haben vs gute Laien, die genau wissen, was sie tun" festhalten möchtest. Und wenn du unbedingt auf dieser Haltung beharren möchtest, kann man da auch mit Argumenten nicht viel machen. Diese Feindschaft gegenüber der Wissenschaft sehen wir ja auch in anderen Bereichen (ist ja gerade sehr aktuell) und auch hier ist man machtlos. Im Moment glaubt ja auch jeder, er sei etablierten Virulogen fachlich überlegen, ohne dass man eine entsprechende Ausbildung hat. Warum sollte man dann auch auch ohne Ausbildung einem Mittelalterhistoriker überlegen sein? :wacko: Mich betrübt das sehr....
    • Ungeachtet der ausgetauschten Argumente finde ich die Diskussion hier recht erbaulich und nicht neben der Sache.

      Meines Erachtens braucht man oft Beides:

      Die gelernten Historiker bzw. Analytiker, die sich - für den Laien - trocken , aber fundiert der jeweiligen Sache nähern einerseits.

      Andererseits eine Art "Experimentalhistoriker"/"-Archäologen", die versuchen, das historisch von den Ersteren eruierte in der heutigen Zeit praktisch nachzuvollziehen.

      Beides isoliert macht meist nur eingeschränkt Sinn.

      Wenn wir mal bei den Waffen bleiben:

      Es gibt etwa aus der Jungsteinzeit, Bronzezeit etc. in Gräbern, Moorfunden etc. Funde von Fragementen oder auch einzelnen erhaltene Objekte von Wurfspeeren.

      Man deren Art aufgrund der Funde vergleichen, Länge, Breite, Gewicht, Material, Verbreitung etc. aufgrund von Funden eruieren, dann ggf. Sekundärquellen wie Abbildungen oder Beschreibungen, soweit aus dieser Zeit vorhanden, heranziehen.

      Das ist das Eine.

      Vielleicht kann man daraus ein Bild eines solchen "Standartspeere" theoretisch darstellen.

      Aber:

      Man weiß oft nicht, wie diese hergestellt oder gebraucht wurden.

      Die Herstellung kann man vielleicht noch anhand von Werkzeugfunden herauszufinden suchen.

      Aber da bleiben auch oft Lücken.

      Dies ist dann das Feld der Experientalhistoriker/-.archäologen.

      Diese versuchen dann, unter Beachtung des bereits Eruierten, die praktische Umsetzung.

      Aber auch hier gibt es oft auch Schwierigkeiten.

      Denn nicht jeder Experimentalmensch kann auch wirklich mit dem Herausgefundenen umgehen. Die Gefahr besteht dann meist darin, das herausgefundene ohne Beleg auf die eigenen Verhältnisse zu übertragen.

      Will heißen:

      Der Primärhistoriker kann hinsichtlich des Speeres vielleicht handwerklich überhaupt nichts, hat zwei linke Hände.

      Der Experimentalo 1 kann das und müht sich redlich, nach den Primär-/Sekundärquellen entsprechendes Objekt herzustellen. Er ist aber vielleicht ein handwerklich begabter, feinsinniger Mensch, ohne viel körperlich robuste Konstitution. Und dann nimmt er das fertige Objekt und wirft es, wie er es im fernsehen bei Olympia gesehen hat, irgendwie im Richtung eines Zieles. Und nichts passiert, der Speer prallt an einem Heuballen oder Ledersack ab.

      Ergo:

      Taugt der Speer nicht ?Taugen die Quellen nichts ?

      Nein.

      Zum einen braucht es ein Zielobjekt, welches denen aus der damaligen Zeit entspricht. Was damit gejagt wurde, muss der Primärhistoriker anhand der Quellenlage beibringen.

      Wie man das Ganze in der heutigen Zeit imitiert, muss man dann ggf. mit Ballistikern/Werkstofftechnikern diskutieren (Was kann man z. B. verwenden, um einen vorzeitlichen Hirsch etc. zu imitieren).

      Und dann braucht es eben auch jemanden, der als Experimentalo 2 den Speer mit der entsprechenden Technik "richtig" schmeißen kann.

      Derjenige war im historischen Kontext dann auch sicherlich keiner, der feinsinnig und wenig robust war.

      Zum "richtig schmeißen" wird man sicher aber auch keine Sportlehrbücher bzgl. Speerwerfen als Anleitung verwenden können. Zudem sind wären solche Werke eh nur eingeschränkt verwendbar - man muss vieles entweder praktisch gezeigt bekommen oder, wenn das Zeigen/Demonstrieren nicht möglich ist, durch "Try and error" selbst herauszufinden versuchen.

      Wenn man das alles beachtet, bekommt man dann ggf. ein Ergebnis x - als Synthese von Quellenforschung und Experimentalarchäologie.

      Und das muss man dann in Publikationen/Interwies für die Fachpresse darstellen - oder eben für das breite Publikum, dass vielleicht nur wissen will, wie es einen Besenstiel aus dem Baumarkt anspitzen muss, um als Steizeit-Larper durchgehen zu können und im Steinzeitlager eben auch mal den Speer mit den eigenen Konstitution so schmeißen zu können, dass er in nem Heuballen steckenbleibt.

      Insofern bleiben wohl immer Defizite, wenn man die Sache nur von einer Seite betrachtet.

      Aber:

      Das breite Publikum will oder kann die Problematik eben nicht von allen Seiten so betrachten, wie es fundiert wäre, sondern nur so, wie es gerade will.

      Insofern haben alle irgendwie ihre Berechtigung, auch wenn der eine über den anderen ggf. die Nase rümpft.

      Meist bringt hier eine Synthese aus allem die gewünschten, brauchbaren Ergebnisse bzw. Ergebnisse, aus denen man Ableitungen für den heutigen Gebrauch erhalten kann.

      Wenn wir es auf die Musikproblematik übertragen:

      In der heutigen Form ist das Instrument, was ich spiele z. B. nicht unbedingt das, was man vor einigen hundert Jahren spielte. Es ist eine Ableitung dessen. Mir sind die historischen Vorbilder bekannt. Ich weiß auch, dass man damals Materialien verwendete, die heute so entweder nicht mehr verfügbar sind oder mit denen ich mit meiner Konstitution nicht spielen könnte (z. B. zu derbe Rohrblätter). Vielleicht hätte ich mit meiner Konstitution früher gar kein solches Instrument gespielt.

      Das ist mir bewusst.. Aber mit einigen Anpassungen, die in Maßen vom historischen Vorbild abweichen, ist es heute für mich möglich.

      Ähnliches gilt für die Musikstücke. Einiges, was man früher damit spielte, will heute vielleicht die Masse nicht mehr hören bzw. verstünde es nicht. Das, was heute gehört werden will und modern erscheint und ggf. Lagerfeue4rtauglichkeit hat, kannte man früher nicht bzw. wäre verpönt gewesen.

      Vor diesem Hintergrund, komme ich mit meinem Instrument und den Stücken eigentlich recht gut klar - und kann mir sogar aussuchen, was ich spielen möchte - und was nicht.

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    • Blooddigger schrieb:

      Aber ich sehe schon. Du scheinst an deiner Haltung: "Böse und ungenaue Wissenschaftler, die eigentlich keine Ahnung haben vs gute Laien, die genau wissen, was sie tun" festhalten möchtest. Und wenn du unbedingt auf dieser Haltung beharren möchtest, kann man da auch mit Argumenten nicht viel machen. Diese Feindschaft gegenüber der Wissenschaft sehen wir ja auch in anderen Bereichen (ist ja gerade sehr aktuell) und auch hier ist man machtlos. Im Moment glaubt ja auch jeder, er sei etablierten Virulogen fachlich überlegen, ohne dass man eine entsprechende Ausbildung hat. Warum sollte man dann auch auch ohne Ausbildung einem Mittelalterhistoriker überlegen sein? Mich betrübt das sehr....
      Und genau hier schließt sich der Kreis nahezu perfekt und verdeutlicht das m.M.n. zentralste Problem zwischen Mittelalter als Epoche und unserer Gesellschaft als Ganzes.

      Stellen wir uns doch mal drei Wissenschaftsbereiche vor; Physik, Biologie und Chemie. Es gibt in der Biologie z.B. die Schulmeinung ABCD. Und auf einmal kommt ein Forschungsergebnis zum Vorschein (z.B. die jahrzehntelange Debatte über die Stellung des Neanderthalers auf der "Evolutionsleiter" wird durch die Sequenzierung des Neanderthaler-Genoms entgültig beigelegt), was neue Erkenntnisse offenbart und die alte Lehrmeinung widerlegt, ergänzt oder erweitert. Diese neue Information, sauber belegt und reproduzierbar, wird von Wissenschaftlern absolut selbstverständlich akzeptiert, eben mit der Ausnahme einiger, die sich eben gern dem Para- bzw. Pseudowissenschaftlichem verschrieben haben. Solche "Ausnahmefälle" sind immer deutlich erkennbar und werden von der Gemeinschaft der seriösen Wissenschaftler und der belesenen Laien entsprechend wahrgenommen. Keiner der seriösen Chemiker, Physiker, Biologen oder gar Mathematiker würde es je persönlich nehmen wenn die alte Lehrmeinung auf einmal nicht mehr gilt, weil es neue belastbare Daten gibt.

      Nicht so das Mittelalter als Epoche. Ob hochstudierter Geschichtswissenschaftler, Laie oder Aluhut-Träger, es darf absolut jeder alles behaupten, egal wie weit hergeholt oder gar komplett physikalisch unmöglich, und - das ist das Unfassbare - es wird absolut von allen Schichten der Gesellschaft aufs Wort sofort geglaubt! Egal wie abwegig die Behauptung (sündteure Gewürze über verrottetes Fleisch was um Größenordnungen billiger ist, alle haben nur Alk getrunken weil Wasser angeblich "verunreinigt" war, usw.), nichts wird hinterfragt. Aber echt gar nichts. Als wäre beim Begriff "Mittelalter" jegliches kritische Denken sofort abgeschaltet.

      Und ja, es gibt namentlich international bekannte hochstudierte anerkannte Historiker, seriöse Wissenschaftler die aber auch gleichzeitig Koryphäen im HEMA-Bereich sind. Oder Sachkultur des Spätmittelalters. Von wissenschaftsfeindlicher "Schwurbelei" keine Spur. Und bezeichnenderweise haben die oft genau dasselbe Problem und diesselben Konflikte mit ihren Berufskollegen. Das perfekte Beispiel eines studierten Historikers der die Quellenlage beherrscht und seinem Unmut über Mythenbildung unter seinen Kollegen freien Lauf lässt:

      youtube.com/watch?v=NqC_squo6X4

      Die einzige Frage die sich mit stellt ist, warum wird jedes Schauermärchen kritiklos als "Fakt" akzeptiert, solange es das Prädikat "Mittelalter" trägt??? Und zwar ziemlich egal von wem dieses Schauermärchen erzählt oder verbreitet wird?
      Slow equals smooth and smooth equals fast
    • Weil eben ein Mittelalter in unseren Köpfen existiert. Und das wurde von Filmen, Serien (auch Fantasy) geprägt, die ihrerseits das Bild des dunklen Mittelalters zeichnen, wie es in der Renaissance entworfen wurde. Auch die Mittelalterforschung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts hat sicherlich ihren Teil dazu beigetragen. Es sind Narrative, die eine sehr lange Tradition haben und sich entsprechend verfestigt haben.


      George schrieb:

      Stellen wir uns doch mal drei Wissenschaftsbereiche vor; Physik, Biologie und Chemie. Es gibt in der Biologie z.B. die Schulmeinung ABCD. Und auf einmal kommt ein Forschungsergebnis zum Vorschein (z.B. die jahrzehntelange Debatte über die Stellung des Neanderthalers auf der "Evolutionsleiter" wird durch die Sequenzierung des Neanderthaler-Genoms entgültig beigelegt), was neue Erkenntnisse offenbart und die alte Lehrmeinung widerlegt, ergänzt oder erweitert. Diese neue Information, sauber belegt und reproduzierbar, wird von Wissenschaftlern absolut selbstverständlich akzeptiert, eben mit der Ausnahme einiger, die sich eben gern dem Para- bzw. Pseudowissenschaftlichem verschrieben haben. Solche "Ausnahmefälle" sind immer deutlich erkennbar und werden von der Gemeinschaft der seriösen Wissenschaftler und der belesenen Laien entsprechend wahrgenommen. Keiner der seriösen Chemiker, Physiker, Biologen oder gar Mathematiker würde es je persönlich nehmen wenn die alte Lehrmeinung auf einmal nicht mehr gilt, weil es neue belastbare Daten gibt.
      Auch in der Mittelalterforschung gibt es immer wissenschaftlichen Fortschritt, der, sofern mit belastbaren Belegen unterfüttert, anerkannt wird. Sonst gäbe es keine Lehrstühle, Dissertationen und Habilitationen mehr. Das Mittelalter ist längst noch nicht ausgeforscht. Aber dieser Fortschritt dringt nicht nach außen, weil er nicht so bahnbrechend für die Menschheit ist wie dein Neandertalerbeispiel. Das, was die Mehrheit der Menschen über das Mittelalter zu wissen glaubt, reicht ihr völlig aus. Sie hat ein Bild vom Mittelalter im Kopf und neue Erkenntnisse stören da nur, wenn sie diesem Bild widersprechen.
    • Und da ich jetzt die ganze Zeit was von Quellen und Daten quatsche, hier mal was Konkretes in Bezug auf Punk-Mittelalter a la GenX VS. Millennial/Zoomer Trends

      Building a Medieval House | 10 Day Bushcraft Shelter Build
      Bushcraft trip - making primitive clothes, baking bread on hot stones, cooking meat over fire etc.
      Medieval living: How Did Medieval Peasants Light Their Homes?

      ... es gibt dutzende solcher Videos die sich Views-mäßig im zweistelligen Millionenbereich befinden, und hunderte wenn nicht tausende, wo scheinbar banale und alltägliche Sachen (wie Kerzen und Kienspan) aus der Vergangenheit es schaffen hunderttausende Upvotes und Views zu generieren. Was uns deutlich zeigt dass das Interesse der jüngeren Generationen an Vergangenheit und historischen Sachverhalten immer noch da ist, oder gar nie weg war. Es ist nur so dass diese Generationen die Vergangenheit eben auf ihre eigene Weise wahrnehmen, und das was ihnen daran am meisten gefällt sind eben die "Life-Hacks" der vergangenen Epochen. Das Bedürfnis nach einem schwarzen, zotteligen und schockierendem (eben "punkigem") Mittelalter ist einfach nicht mehr in ausreichender Menge (wenn überhaupt) vorhanden.

      Meine Meinung ist, erfahrbares quellennahes Life-Hack Mittelalter hat Zukunft und echtes Potential. In diese Richtung arbeite ich als Pädagoge.

      Damit wäre für mich alles gesagt.


      Grüße, George
      Slow equals smooth and smooth equals fast
    • Watt fürn hack ?

      Ick kenn nur Rinderhack.

      Sorry, aber klär mich Rückständigen mal einer auf...

      Morgen geh ich, wie gestern schon, wieder ins Museum für Vorgeschichte...und versinke dann in der Lininebandkeramik. Von der Zeit hätte man auch eine andere Vorstellung, wenn man sich mal die Mühe machen würde, die mühsam und top aufgearbeiteten Funde in Gänze zu betrachten. Macht aber auch keiner. Im Ergebnis dessen hat man - im Gegensatz zum Mittelalter - zu herabsetzende Vorstellungen der damaligen zeit.

      Die Ursache ist aber die Gleiche: Mangelnde, tiefgründige Beschäftigung mit der Materie und mangelnder Transport entsprechend quellenbasierten Wissens nach draußen, unters Volk.

      So blieben nur dumpfe Gestalten übrig, die nicht richtig sprechen konnten, sich mit Steinbeilen auf den Kopf schlugen und mit max. 30 Jahren starben... Dolle Vorstellung...

      So kommt es nicht mal zu nem Steinzeitboom .... obgleich die Quellenlage an anderer Stelle schon so zutreffend dokumentiert und aufgearbeitet - oder "ge-hackt" ? - worden ist - wie man hier sieht....:Quellendoku Steinzeit

      Dieser Beitrag wurde bereits 2 mal editiert, zuletzt von Ralph ()

    • @Ralph Ja, du hast Recht. Und ich glaube, ich weiß auch, woran das liegt. Ich glaube, je größer die zeitliche Distanz und je größer die Andersartigkeit zum Heute ist, desto weniger Interesse hat die Allgemeinheit an historischen Zusammenhängen. So gibt es ja bspw. auch kaum Menschen außerhalb des akademischen Betriebs, die sich für die römische oder griechische Antike interessieren. Von der Vor- und Frühgeschichte mal ganz zu schweigen. Wobei wir hier ja auch das Problem haben, dass wir kaum (oder keine? Ich weiß es, ehrlich gesagt, nicht) Schriftquellen haben.

      Das Problem ist aber auch immer: Geschichte ist schwierig, auch wenn jeder meint, er hätte Ahnung davon. Wenns nicht gerade ums Malen, Basteln und Kochen geht, ist die Annäherung an die Materie schwer. Quellen sind nicht jedermann zugänglich (sowohl im übertragenen - man weiß nicht, wie man sie liest und damit umgeht - als auch im wörtlichen Sinn - sie sind nicht veröffentlicht und man muss in Archive/Bibliotheken fahren) und dementsprechend bleibt der Großteil der Vergangenheit den Menschen verschlossen. Und das führt dann eben dazu, dass sich ein Halbwissen (oder gar Nichtwissen) über die Vergangenheit etabliert hat, wobei aber trotzdem jeder glaubt, er hätte Ahnung von der Materie.
    • Ralph schrieb:

      Morgen geh ich, wie gestern schon, wieder ins Museum für Vorgeschichte...und versinke dann in der Lininebandkeramik. Von der Zeit hätte man auch eine andere Vorstellung, wenn man sich mal die Mühe machen würde, die mühsam und top aufgearbeiteten Funde in Gänze zu betrachten. Macht aber auch keiner. Im Ergebnis dessen hat man - im Gegensatz zum Mittelalter - zu herabsetzende Vorstellungen der damaligen zeit.

      Die Ursache ist aber die Gleiche: Mangelnde, tiefgründige Beschäftigung mit der Materie und mangelnder Transport entsprechend quellenbasierten Wissens nach draußen, unters Volk.

      Blooddigger schrieb:

      Das Problem ist aber auch immer: Geschichte ist schwierig, auch wenn jeder meint, er hätte Ahnung davon. Wenns nicht gerade ums Malen, Basteln und Kochen geht, ist die Annäherung an die Materie schwer. Quellen sind nicht jedermann zugänglich (sowohl im übertragenen - man weiß nicht, wie man sie liest und damit umgeht - als auch im wörtlichen Sinn - sie sind nicht veröffentlicht und man muss in Archive/Bibliotheken fahren) und dementsprechend bleibt der Großteil der Vergangenheit den Menschen verschlossen. Und das führt dann eben dazu, dass sich ein Halbwissen (oder gar Nichtwissen) über die Vergangenheit etabliert hat, wobei aber trotzdem jeder glaubt, er hätte Ahnung von der Materie.
      Kann ich so uneingeschränkt unterschreiben!

      Aus der pädagogischen Sicht, kann das Verhalten unserer Gesellschaft gegenüber Geschichte z.T. über das Lebenswelt-Konzept erklärt werden. Das verstärkte Interesse an Geschichte flackert immer dann auf, wenn ein klarer Bezug zwischen der erlebten Gegenwart und den geschichtlichen Vorgängen hergestellt werden kann. Dieser muss weder sachlich noch historisch authentisch sein, politische Umstände, Lebensgefühl, Zeitgeist, Medieninhalte und desgleichen können bei den Menschen ein persönliches oder gemeinschaftliches (meist irrationales) Gefühl auslösen "die Geschichte wiederhole sich auf eine Art und Weise in unserer Gegenwart".

      Beispiele. Historical European Martial Arts (HEMA). Dieses Interesse an historischen europäischen Kampfkünsten wurde ausgelöst durch eine mehr als 30-jährige und ziemlich penetrante Präsenz der asiatischen Kampfkünste in Filmen, Serien und Dokumentationen. Man könnte sogar von einem "Martial Arts Boom" sprechen. Einige Leute haben sich von den ganzen Eastern und z.B. "Kill Bill" inspirieren lassen, begaben sich auf die Suche nach "Ritter-Kung-Fu", fingen an in den Quellen zu wühlen, fanden weit mehr als jemals erhofft und die HEMA-Bewegung hob ab. Corvus Corax und Co. "Spielmann VS Obrigkeit" = "heidnischer Wikinger VS christliche Kirche" = "Punker VS Gesellschaft" = "40-Stunden-Woche VS Urlaub in exotischen Ländern", usw. Alkoholische Getränke (und oft dazugehöriges "Wildgelage") werden besonders von den älteren Generationen oft gerade mit dem Mittelalter fest assoziiert, wahrscheinlich aufgrund des urbanen Mythos "Alle trinken Alk im Mittelalter weil Wasser verseucht ist, und sind alle ständig besoffen". Die Liste der Beispiele lässt sich ellenlang fortführen.

      Daraus lassen sich Lösungsvorschläge ableiten.

      Wenn z.B. die Naturensöhne auf YouTube anfangen für ihr "Schlingelcamp" Tongeschirr nach der Art der Linienbandkeramik zu fertigen, dann werden sie damit Millionenpublikum erreichen und dieses Stückchen Wissen breiter streuen als jegliche Fachzeitschrift. Die sog. "Reactions" der Fachleute auf Serien & Filme in Bezug auf Authentizität und Fakten sammeln ebenfalls oft mehr Views als die Serie/Film selbst. HIER und HIER ein Paar Beispiele. Es ist auch kein Geheimnis dass die meisten jüngeren Menschen heute eben Social Media als ihre erste Anlaufstelle für Wissenserwerb sehen, und das sollte man sich zunutze machen, denn dadurch erreicht man nicht tausende, sondern potentiell dutzende oder gar hunderte Millionen Zuschauer weltweit. Als content creator im Social Media kann man 1). durch aktuelle Themen einen guten Bezug zur Gegenwart aufrechterhalten, 2). eine globale Reichweite entwickeln und 3). auf Wünsche und Vorschläge der Menschen direkt eingehen (Kommentarfunktion). Eine klare Abgrenzung zu einschlägigen Clickbait-Kanälen die nur Mythen verbreiten um Klicks zu erzeugen, ist selbstverständlich.


      Grüße, George
      Slow equals smooth and smooth equals fast
    • Und da ist er, der entscheidende Hinweis eines Zeitgenossen...
      Alt-Punks als eine der Säulen der (ost)deutschen MA-Bewegung!
      marktsack.de/community/index.p…ack/&postID=1241#post1241

      Das erklärt aber auch relativ gut warum es so wenig Bewegung in der (Punk)-MA-Szene gab bezüglich der musikalischen Entwicklung des Marktsackes. Wie Wikipedia es durchaus treffend ausdrückt:

      https://de.wikipedia.org/wiki/Punk#Das_kulturelle_Verm%C3%A4chtnis:_Punk_in_der_Gegenwart schrieb:

      Hier steht der Begriff auch heute noch allgemein für alles Unangepasste und Dreckige in der Musikkultur, für den Mut zum Dilettantismus, zu einfachen Akkorden, zum Minimalismus und zur Spontanität, für die Verweigerungshaltung gegenüber dem Etablierten, für eine postmaterialistische Lebenseinstellung und für die Vulgarität und Unmittelbarkeit der Straße.
      Die Qualität der Musik stand also, generell gesprochen, nie im Mittelpunkt, das erklärte Ziel war es eher die Gesellschaft und vor allem ältere Generationen aufzurütteln, provozieren und dem eigenen Lebensgefühl einen Raum zu geben. Das erklärt doch ganz gut warum es z.B. sehr bekannte MA-"Urgesteine" gibt, die heute auf dem Makrtsack genauso spielen wie vor über 30 Jahren, sowohl vom Repertoire her als auch aus spieltechnischer Sicht, und es immer wieder während der letzten 15 Jahren der Vorwurf der "besseren Musiker" im Raum stand die MA-Szene und ihr Instrument seien "primitiv". Es war offenbar schlichtweg die Absicht es so zu machen, und zwar von Anfang an, getreu dem ursprünglichen Punk-Zeitgeist.

      Nur um mal das Ganze grob von oben zu betrachten: die Silent Generation ist heute 80+, die Baby Boomer sind 60+ und die GenX'er sind 40+. Die Ausdrucksfreiheit der eigenen Identität (Aussehen, Sprache, Gender-Zugehörigkeit, usw.), so wie sie von Punks damals durch ihren Protest eingefordert wurde, ist für sie Millennials, GenZ und Generation Alpha mittlerweile alltäglich und selbstverständlich. Das Weltbild, wie die Silent Generation und z.T. die Boomer es noch kannten, existiert schon lange nicht mehr, und folgerichtig auch die Schockwirkung des guten alten Punk.

      Grüße, George
      Slow equals smooth and smooth equals fast
    • Ich finde es irgendwie immer kritisch, wenn man unterstellt, alle Menschen einer Generation würden gleich ticken. GenX tickt so, GenY tickt so, Baby Boomer ticken so etc., ganz so, als wären alle Menschen einer Generation gleich, hätten die gleichen Wertvorstellungen und dieselbe Haltung. Das ist ein Schubladendenken, das eigentlich niemandem weiterhilft und keinen konkreten Nutzen hat - zumal dann, wenn man es nur vom Geburtsjahr abhängig macht. Das ist doch irgendwie eine arge Vereinfachung der Welt. Aber vielleicht ist das so ein Ding der Pädagogen, die sich auf diese Art versuchen, die Welt zu erklären. Aus eigener Erfahrung weiß ich aber, dass die Welt deutlich komplexer ist und dass man mit einfachen Erklärungsmustern nicht weit kommt.

      Was du über MA-Bands sagst, ist ja genau das, was ich oben geschrieben habe. Viele MA-Bands versuchen auf Böhse Onkelz zu machen - freilich mit Dudelsäcken und Schalmeien. Und das kommt offenbar gut an, und zwar über alle Generationen hinweg. Ob man das als Folkmusiker gut findet, ist wieder eine andere Frage.